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Titel
Rousseaus Garten. Eine kleine Kulturgeschichte der St. Petersinsel von Jean-Jacques Rousseau über die Schweizer Kleinmeister bis heute


Autor(en)
Piatti, Barbara
Erschienen
Basel 2001: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
223 S.
Preis
€ 19,50
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Franziska Vassella

2001 fanden auf der St. Petersinsel im Bielersee Freilichtspiele statt; dem Genius Loci entsprechend spielte man zwei Musiktheater aus der Epoche der Empfindsamkeit. «Le devin du village», ein Intermezzo von Jean-Jacques Rousseau aus dem Jahr 1752, sowie «Bastien und Bastienne», ein Singspiel von Wolfgang Amadeus Mozart von 1768. Anlässlich dieser Freilichtproduktion hat die Stiftung Graphica Helvetica, Bern, in Verbindung mit der Grafischen Sammlung der Schweizerischen Landesbibliothek den hier besprochenen Band herausgebracht. Als Jean-Jacques Rousseau 1765 die idyllische St. Petersinsel das erste Mal besuchte, war diese unbekannt – ein Jahrhundert später war sie erklärtes Traumziel zahlreicher Europäer. Die kleine Kulturgeschichte der Insel setzt schwerpunktmässig mit Rousseau ein und führt über die Schweizer Kleinmeister bis in die Gegenwart. Die zentrale Fragestellung beschäftigt sich mit der schrittweise erfolgten Stilisierung der St. Petersinsel zum Mythos.

Das komplexe Empfinden des18. Jahrhunderts dem heutigen Leser zu erschliessen, ist kein leichtes Unterfangen. Die gewählte Form darf als durchaus originell bezeichnet werden; die Texte sind nach dem Muster eines Spaziergangs gestaltet, eine Form, die Rousseau in seinen Aufzeichnungen «Träumereien des einsamen Spaziergängers» selbst vorgab. Kleine Händchen sind im Text verteilt und weisen auf die Schlagworte der Epoche hin: Arkadien, Sprache der Gefühle, Lektüre in der freien Natur, Parklandschaft usw. Die Leserschaft ist eingeladen, auf geraden und verschlungenen Wegen die Kulturgeschichte der St. Petersinsel und Rousseaus Einfluss zu erkunden.

Die Insel wird fiktiv insgesamt dreimal besucht. Die erste Visite erzählt von Jean- Jacques Rousseaus Inselbesuch, der ab dem 12. September 1765 sechs Wochen dauerte. Die Vorgeschichte zum Inselaufenthalt liest sich wie ein spannender Abenteuerroman: 1762 wurde in Den Haag Rousseaus Roman «Emile oder über die Erziehung» gedruckt; die im Roman geäusserten Forderungen nach einer dogmatischen, kirchlich ungebundenen Religion erregten das Missfallen der Regierungen. In Paris wurde das Buch druckfrisch beschlagnahmt und im Hof des Justizpalastes verbrannt. Rousseau, dem ein Prozess und sogar eine Gefängnisstrafe drohte, flüchtete aus Paris in die Schweiz. Seine Freude über die Rettung war von kurzer Dauer; Bern verweigerte ihm die Aufenthaltserlaubnis. Erst das Fürstentum Neuenburg, unter preussischer Herrschaft, gewährte dem Verfolgten Asyl, in Môtiers im abgelegenen Val-de-Travers. Drei Jahre lebte er hier, immer wieder besucht von begeisterten Verehrern. Im Dorf selbst blieb er ein exotisch gekleideter Aussenseiter, Anschuldigungen und Vorwürfe konterte er mit spitzer Feder. Ein in die Stube geworfener Stein – in der literarischen Erinnerung zur Steinigung von Môtiers stilisiert – gab den Ausschlag zur Flucht auf die St. Petersinsel.

Rousseaus Gesellschafts- und Zivilisationskritik stempelte ihn zu einem von den Regierungen als gefährlich eingestuften Autor. Der Aufenthalt auf der St. Petersinsel hingegen zeigt Rousseaus andere Seiten: Schöpfer des empfindsamen Naturgefühls sowie Spaziergänger und Geniesser der reizvollen Naturlandschaft. Die sechs Wochen verbrachte Rousseau mit Spazieren, Träumen und Botanisieren. Das spielerischlustvoll genossene Landleben entsprach dem Ideal einer vorwiegend städtischen Leserschaft, das mystische Arkadien, Glücksland der Hirten und Schäferinnen, wird erlebbar auf der St. Petersinsel.

Der zweite literarische Besuch auf der Insel erfolgt im Besucherstrom der zahlreichen Rousseau-Verehrer. Im Oktober 1765 verliess der Philosoph die Insel; die «Rêveries du promeneur solitaire» erschienen 1782, vier Jahre nach seinem Tod. Die Rousseau-Begeisterten reisten aus ganz Europa an, um den Ort zu sehen, wo der verehrte Philosoph die seligsten Wochen seines Lebens verbracht hatte.

Das Umfeld dieses «Rousseau-Tourismus» wird der heutigen Leserschaft nahe gebracht. Die Mode der Schweizreise, die literarische Wallfahrt, die Lektüre in der Natur. Die Besucher kannten keinerlei Hemmungen, die Spuren ihres Idols zu verfolgen. Ein Besuch des Pavillons und des Rousseau-Zimmers belebte die Erinnerung, die bald durch Anekdoten angereichert wurde. Souveniralben der Schweizer Kleinmeister liessen sich als Andenken erwerben und kurbelten das Geschäft mit Rousseaus Inselaufenthalt an.

Der dritte Besuch schliesslich beleuchtet den Tourismus auf der St. Petersinsel im 19. und 20. Jahrhundert. Obschon der Besucherstrom im 19. Jahrhundert abnahm, wurde die Insel immer noch von berühmten Zeitgenossen wie Honoré de Balzac, Michail Bakunin oder Paul Klee aufgesucht. Die St. Petersinsel diente weiterhin als literarischer Schauplatz, keines der hier entstandenen Werke konnte jedoch aus dem Schatten Rousseaus heraustreten. Der Originaltext des fünften Spaziergangs von Rousseau, Stationen aus der Geschichte der St. Petersinsel, eine Auflistung der Wohnorte und Museen zu Rousseau sowie die Bibliografie beschliessen den Band.

Die kleine Kulturgeschichte der St. Petersinsel ist in Deutsch und Französisch geschrieben; zitierte Werke lassen sich in der jeweiligen Originalsprache nachlesen. Hervorragend ist die grafische Gestaltung des Werkes; die farbigen Abbildungen der Kleinmeister ermöglichen amüsante Begegnungen mit den berühmtesten Rousseau- Anekdoten wie beispielsweise «Die Einschiffung der Kaninchen» in Anlehnung an Watteaus «Einschiffung nach Kythera». Die ausführliche Bibliografie enthält die lokalhistorischen Schriften zur St. Petersinsel wie auch Hinweise zur allgemeinen kulturhistorischen Literatur des 18. Jahrhunderts. Dienlich wäre im Anhang eine Kurzbiografie zu Rousseau gewesen. Die Vorgabe, eine kleine Kulturgeschichte der St. Petersinsel zu schreiben, wird nur teilweise eingelöst; Thema bleibt Rousseaus Einfluss auf die Geschichte der St. Petersinsel. Gesamthaft gesehen wäre eine Beschränkung auf Rousseau und dessen Inselaufenthalt sinnvoll gewesen – die Hinweise auf frühere und spätere Entwicklungen bleiben marginal.

Zitierweise:
Franziska Vassella: Rezension zu: Piatti, Barbara: Rousseaus Garten. Eine kleine Kulturgeschichte der St. Petersinsel von Jean-Jacques Rousseau über die Schweizer Kleinmeister bis heute / Le jardin de Rousseau. Petit périple historique dans l’île Saint-Pierre de Jean-Jacques Rousseau aux petits maîtres suisses et jusqu’à nos jours, Basel, Schwabe, 2001, 223 S., ill. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 65, Nr. 4, Bern 2003, S. 218f.

Redaktion
Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 65, Nr. 4, Bern 2003, S. 218f.

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